05.07.2021

Daniel Sprick

Sicherheit durch Recht? Chinas Kampagne gegen Terrorismus und Extremismus in Xinjiang

Als Nachrichten von den Geschehnissen rund um den Kunminger Bahnhof am 1. März 2014 die chinesische Öffentlichkeit erreichten, war diese zutiefst schockiert. Mit langen Messern bewaffnet hatte dort eine kleine Gruppe Uighuren 31 Menschen getötet und 141 weitere teilweise schwer verletzt. Zuvor war ihnen offenbar an anderer Stelle die Ausreise aus China misslungen, die sie nach Erkenntnissen der Ermittlungsbehörden einem vermeintlichen Jihad unter Führung des IS hätte näherbringen sollen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war die Bedrohung durch inländischen Terrorismus ins Bewusstsein der chinesischen Öffentlichkeit und in den Mittelpunkt der sicherheitspolitischen Agenda gerückt.
Der chinesische Staat reagierte prompt und rief noch im Mai 2014 die fortlaufende Strafrechtskampagne des ‚Volkskrieges gegen den Terror (反恐人民战争)’ aus. Von Beginn an war klar, dass der Feind in diesem Krieg vor allem in Xinjiang steht und dem muslimischen Glauben angehört. Dabei griff man auf ein Arsenal von Maßnahmen zurück, welches sich einerseits aus den zeitweise überwunden geglaubten Repressionsinstrumentarium der Kampagnen des ‚Harten Zuschlagens (严打)‘ und des administrativrechtlichen Freiheitsentzuges der ‚Umerziehung durch Arbeit (劳教)’ zurück. Andererseits bedient man sich moderner Informationstechnologien und Methoden des Predictive Policing, um eine umfassende Überwachung vor allem der muslimischen Bevölkerung in Xinjiang zu erreichen. Seither reißen Berichte über massenhafte Internierungen und repressiven Überwachungsmethoden in Xinjiang nicht ab. Während das tatsächliche Ausmaß der ergriffenen Maßnahmen dabei jedoch umstritten bleibt und sich dem Blick des Betrachters häufig entzieht, blieb China im Hinblick auf Transparenz seinem Credo einer zunehmenden Rechtsstaatlichkeit treu, so dass sich die entsprechenden gesetzlichen Grundlagen dieses Volkskrieges leicht nachvollziehen lassen. Neben einer Revision des Strafgesetzbuches war dies vor allem die Verabschiedung eines bemerkenswert holistischen Anti-Terror Gesetzes und von ‚De-Extremisierungsbestimmungen (去极端化条例)‘ speziell für die Provinz Xinjiang, die in weiteren Lokalvorschriften weiter ausgeführt wurden. Die gewählte rechtliche Architektur weißt dabei deutliche Züge eines ‚Feindstrafrechts‘ im Sinne JAKOBS auf, welches einschneidende und repressive Maßnahmen bereits weit im Vorfeld von konkreten Gefährdungshandlungen ermöglicht.
Der chinesische Gesetzgebungsdiskurs bekennt sich hierbei ostentativ zum Primat der Sicherheit in der Rangfolge der zu verwirklichenden Menschenrechte, so dass die ergriffenen Maßnahmen auch mit einem wirksamen Menschenrechtsschutz begründet werden. Zwar sieht auch der ‚UN-Aktionsplan zur Verhinderung von gewaltsamem Extremismus‘ eine enge Verbindung von Terrorismusbekämpfung und einem konkreten Menschenrechtsschutz, verlagert den Schwerpunkt der zu ergreifenden Präventivmaßnahmen aber in den Bereich systemischer und struktureller Defizite jenseits rein strafrechtlicher Erwägungen. So werden hier der Mangel an sozioökonomischen Möglichkeiten, die Marginalisierung und Diskriminierung, die schlechte Governance, Menschenrechtsverletzungen und mangelnde Rechtsstaatlichkeit, ein fortgesetzter ungelöster Konflikt sowie die Radikalisierung in Gefängnissen als zentrale Faktoren identifiziert. Ob China hingegen mit einer ausufernden Kriminalisierung, erdrückenden Überwachung und erzwungenen Sinisierung der Religion den gewaltsamen Extremismus in Xinjiang eindämmen und nachhaltige Sicherheit schaffen kann, bleibt mehr als zweifelhaft.